„Wir haben lernen müssen, Geduld zu haben“
Im Gespräch mit Silke Rösler und Heike Drechsler
Silke Rösler, die Leiterin des Kinder Paradise in Accra und Heike Drechsler-Atta die Ärztin des Kinder Paradise gaben uns anlässlich der 10 Jahre Kooperationsfeier zwischen dem Kinder Paradise und dem Lufthansabüro in Accra ein exklusives Interview über ihre Arbeit und Erlebnisse im Kinder Paradise.
Das Kinder Paradise gibt’s seit 1998, was ist aus den ersten Kindern bisher geworden?
Die ersten Kinder waren bereits um die 10 bis 14 Jahre alt, als sie im Kinder Paradise aufgenommen wurden und haben entsprechend länger die Schule besucht. Nach Abschluss einer Berufsausbildung sind sie alle berufstätig.
Wie viele ehemalige „Kinder“ kommen noch regelmäßig ins Projekt?
70-80% der Ehemaligen kommen immer wieder zu Besuch. Fast alle Jugendlichen, die ihren Schulabschluss gemacht haben, reintegriert wurden und auf eine weitere Ausbildung warten, arbeiten als Freiwillige im Kinder Paradise. Sie helfen in der Küche, der Schule, der Heimroutine und bei Renovierungsarbeiten mit. Ein Elektriker und ein Koch von unseren Ehemaligen bieten gern ihre Dienste an, wenn Bedarf ist.
Wie sieht der Tagesablauf im Kinder Paradise aus?
Die Kinder und Jugendlichen im Heim beginnen den Tag mit kleinen Hausarbeiten wie Fegen und sauber machen. Dann gehen sie in die Schule. Nach der Schule gibt es Freizeit und dann werden Schulaufgaben gemacht. An den Wochenenden gibt es Freizeitprogramme und Lernangebote, gelegentlich auch Ausflüge.
Mit welchen alltäglichen Problemen (der Kinder) habt ihr immer und immer wieder zu kämpfen?
Fast alle Kinder haben durch ihre Vorgeschichte einen starken Vertrauensverlust erlitten und wollen sich nicht öffnen. Es kann bis zu mehreren Jahren dauern, bevor sie sich sicher genug fühlen, um etwas aus sich heraus zu gehen. Ein weiteres Problem ist, dass die meisten Kinder vor ihrer Aufnahme ins Kinder Paradise nicht zur Schule gegangen sind. Daher ist es schwierig, sie auf einen vergleichbaren Ausbildungsstand mit ihren Altersgenossen zu bringen.
Was ist die schönste Geschichte, die spontan in den Sinn kommt?
Ein junges Mädchen, welches nicht angeben konnte (wollte) woher es kam, wurde durch die liebevollen, beständigen Bemühungen eines unserer Sozialarbeiter überzeugt, etwas über ihre Familie und ihren Heimatort zu verraten. Ein Besuch der Familie seitens des Sozialarbeiters ergab, dass das Mädchen auf dem Weg, etwas zu besorgen, verschwunden und nie wieder aufgetaucht war. Die Familie hatte angenommen, es sei tot. Das Mädchen war aber entführt worden und konnte entkommen. Es hatte solche Angst vor ihrem Entführer, der ein einflussreicher Mann in ihrem Heimatort war, dass sie sich aus Furcht um ihr Leben 4 Jahre lang nicht getraut hatte, etwas zu verraten. Sie konnte mit ihrer überglücklichen Familie zusammengeführt werden.
Und die Traurigste?
Ein kleines, 13-jähriges Mädchen, das in unser Tageszentrum kam, weil es krank war, stellte sich als schwanger heraus. Sie war ein Waisenkind aus sehr armen Verhältnissen und war in die Hauptstadt gebracht worden, um zu arbeiten. Bald verlor sie ihre Unterkunft und lebte auf der Strasse. Sie wurde von einem Mann aufgenommen, der ihr „helfen“ wollte, sie aber sexuell missbrauchte. Das Mädchen war so klein und eng gebaut, dass sie ohne einen Kaiserschnitt nicht haette gebären koennen. Wir kümmerten uns um alle Voruntersuchungen, brauchten aber eine Einverstaendniserklärung ihrer Familie, um ihn durchführen zu lassen. Ihre Familie erteilte diese zuerst, liess sich dann aber von der Familie des Täters ueberreden, keine Strafverfolgung anzustreben, und nahm trotz Aufklärung, dass weder das Mädchen noch das Ungeborene eine normale Geburt überstehen könnten, das Mädchen in ihr sehr entlegenes Dorf ohne jegliche Möglichkeit medizinischer Versorgung mit. Sie vertrauten darauf, dass der Kräuterheiler für eine sichere Geburt sorgen kann. Auch die eingeschaltete Behörde konnte nichts daran tun. Wir haben nie wieder etwas von dem Mädchen gehört.
Was ist das Wichtigste, das ihr durch die Arbeit vor Ort über euch selbst gelernt habt?
Wir haben lernen müssen Geduld zu haben, die anderen Lebensumstände am Einsatzort in die Planung und Umsetzung einzubeziehen, und flexibel genug zu sein, seine eigenen Erwartungen und Pläne zurückzustellen, wenn es für die Entwicklung des Projektes erforderlich ist.
Das Kinder Paradise gibt’s nun seit über 16 Jahren, was hat sich in der Zeit verändert?
Aus einer ursprünglichen Idee, einzelnen Kindern zu helfen, sind Strukturen gewachsen und entwickelt worden, die das Projekt zu einer Organisation haben werden lassen, die in vielen Bereichen übergreifend tätig ist (von Direktbetreuung von Strassenkindern über Einschulung, Berufsausbildung und Familienzusammenführung, sowie Mitarbeit in Regierungs-Komitees zur Erstellung nationaler Standards und Kinderrechts-Richtlinien)
Frei nach dem Motto: „Standing still is a step backwards: we look to the future!” Was ist als nächstes Großes im Kinder Paradise geplant?
Alle Distrikte Ghanas sollen multidisziplinäre Komitees (Social Protection Committees) gründen, welche in den Bereichen Armut, Bildung, Landwirtschaft, Gesundheit, Straßenkinder, Behinderte, Waisen und Witwen, sowie Senioren, Erhebungen durchführen und strategische Dokumente und Richtlinien entwickeln sollen. Kinder Paradise wurde in eines dieser Komitees berufen und freut sich, an der Bekämpfung der Ursachen von Kindern, die auf der Strasse enden, aktiv mitarbeiten zu können.
Darüber hinaus würde Kinder Paradise gerne mehr Kinder aufnehmen, wenn die nötigen Mittel zur Verfügung stehen.