Jordanien, Azraq Catch-up Schule

Ein Pflänzchen im Wüstensand

16. November 2016

Über 100 Kilometer führt die Straße von Amman schnurgerade durch die Wüste Richtung Saudi-Arabien. Nichts als Sand, Geröll und unendliche Weite. Darüber nur der blaue Himmel und in der Ferne der Horizont im Dunst. Nach gut zweistündiger Fahrt von der jordanischen Hauptstadt taucht ein gigantisches Lager auf. Soweit das Auge reicht, reihen sich Tausende von Blechhütten aneinander, grell leuchten die Dächer im Sonnenlicht. Dazwischen Wassertanks und Zäune, Tore und Schlagbäume. Rund 40.000 Flüchtlinge leben hier im Nirgendwo, geflüchtet vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Hier hat man die Folgen der größten Flüchtlingsbewegung seit Ende des zweiten Weltkriegs direkt vor Augen. Die Menschen im Camp haben alles verloren, Familienmitglieder und Freunde, Nachbarn, ihre Häuser und Wohnungen, ihr Hab und Gut. Nur an einem klammern sie sich fest – an der Hoffnung, eines Tages wieder zurückzukehren zu ihren Wurzeln – nach Homs und Aleppo, Palmyra und Damaskus – ihrer Heimat.

Offiziell sind es 600.000 syrische Flüchtlinge, die vor dem Bürgerkrieg nach Jordanien geflohen sind und vom UNHCR, dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, registriert wurden. Die nationale Statistikbehörde geht von rund 1,2 Millionen geflohenen Syrern in Jordanien aus und 300.000 Irakern, die sich im Königreich aufhalten.

Inoffizielle Quellen sprechen gar von drei Millionen Menschen, die Zuflucht im Nachbarland gesucht haben. Zwar hat Jordanien seit Ende der 1940er Jahre immer wieder bei Kriegen und Konflikten Flüchtlinge aufgenommen, darunter Hunderttausende Palästinenser. Aber beim derzeitigen Ausmaß der Flüchtlingswelle sind die Möglichkeiten des Landes mit seinen 6,5 Millionen Einheimischen längst erschöpft. Auch Jordanien leidet.

Die Vereinten Nationen sind in der Pflicht, zahlreiche große Organisationen leisten Unterstützung und dennoch fehlt Hilfe an allen Ecken und Enden. In den Flüchtlingscamps, von denen es gut ein Dutzend gibt, erhalten die Menschen ein Dach über dem Kopf, Nahrungsmittel und eine medizinische Grundversorgung. Für Kinder und Jugendliche gibt es Schulen und den Versuch, die Menschen sinnvoll zu beschäftigen. Leib und Leben sind in Sicherheit, aber es droht ein zermürbendes Warten. Warten darauf, was kommt.

Und die Menschen sind traumatisiert von den Erlebnissen des Krieges und der Flucht, verzweifelt ob ihrer ungewissen Zukunft. Manchmal sind es die kleinen, unscheinbaren Bilder und Momente, die für sich sprechen – etwa das junge Paar, das hier im Azraq-Camp auf einer Bank sitzt, einen kleinen Säugling in den Armen. Das Kind ist krank. Und die Eltern sitzen hier verzweifelt, mit gebrochenem Blick – eine junge Familie inmitten von 40.000 Menschen und doch allein. Ein stummer Appell an die Weltgemeinschaft.

Wie hat es kürzlich Jordaniens Königin Rania bei ihrem Besuch in Berlin formuliert: „Wir können nicht genug von Konnektivität bekommen, aber was ist mit der mitmenschlichen Beziehung? Unsere Welt ist zusammengewachsen, jedoch driftet unsere globale Familie in besorgniserregender Weise auseinander.“

Mitmenschliche Beziehungen – genau darauf zielt seit dem vergangenen Jahr die help alliance mit ihrem Projekt ab, der Azraq Catch-up-Schule. Eine knappe halbe Stunde Autofahrt vom Flüchtlingscamp entfernt liegt das namensgebende Städtchen Azraq. Rund 4.000 Kinder und Jugendliche leben in dieser unwirtlichen Gegend außerhalb des Zauns des großen Flüchtlingscamps. Sie haben das Lager verlassen, um Anschluss zu finden in einem Umfeld mit sozialen Kontakten, einer Struktur im Alltag, in dem nichts normal ist.

Zwar versucht die einheimische Bevölkerung, den Menschen angesichts ihrer traumatischen Erlebnisse und kräftezehrenden Flucht ihr Leid zu lindern und den in der Region lebenden Flüchtlingen eine vorübergehende Heimat zu bieten. Doch gerade Schulen und Bildungseinrichtungen sind heillos überfüllt.

Die Straße führt in Azraq einen kleinen Hügel hinauf. Rund um einen kleinen, sandigen Platz reihen sich drei Container, Klassenräume auf engstem Raum, ausgestattet mit dem Nötigsten, aber funktional. An einem ist mit frischer Farbe das help alliance-Logo gepinselt, ein noch unfertiger Regenbogen verspricht Zuversicht. Aus den Klassenräumen sind Kinderstimmen zu hören, fröhliche Stimmen.

„Dank der Azraq Catch-up Schule werden rund 100 Flüchtlingskinder schulisch versorgt, die ansonsten in einer öffentlichen Schule keinen Platz finden würden oder denen durch ihre sehr lange Flucht der Anschluss fehlt“, berichtet Projektleiterin Christine Loos. Die engagierte Lufthanseatin arbeitet in Teilzeit auf der Station Frankfurt, lebt aber mit ihrem Mann seit acht Jahren in Amman und weiß daher, wo konkrete Hilfe nötig ist – der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein, aber immerhin ein Tropfen.

Syrische Flüchtlingskinder im Alter von sechs bis 15 Jahren lernen hier in der Azraq Catch-up Schule Tag für Tag auf Grundlage des syrischen und jordanischen Bildungscurriculums. „Es ist ja noch nicht klar, in welchem Schulsystem die Kinder zukünftig eingebunden sein werden. So haben sie parallele Möglichkeiten, hier in Jordanien und ihrer Heimat Syrien“, berichtet Christine Loos. Auch drei Lehrkräfte werden durch die help alliance finanziert, gesunde Mahlzeiten zur Verfügung gestellt und Dinge des Alltags vermittelt, etwa zum Thema Zahnhygiene.

„Das Projekt ist ein zartes Pflänzchen“, stellt Vivian Spohr, Schirmherrin der help alliance, jetzt bei ihrem Besuch in Azraq fest, umringt von Dutzenden Kindern auf dem sandigen Pausenhof, „aber es entfaltet Wirkung“. Gerade wird der durch die help alliance finanzierte Container, der 35 Kindern als Klassenraum dient, bunt angemalt. Lokale Vertreter geben sich die Ehre und wollen dem Besuch aus Deutschland stolz ihre Aufwartung machen.

„Angesichts des Ausmaßes der menschlichen Katastrophe und des Leids, das diese Kinder hier durchgemacht haben und durchmachen müssen, könnte man verzweifeln“, so Vivian Spohr. “Umso wichtiger ist es, hier zu helfen und zumindest diesen jungen Menschen Zugang zu Bildung zu ermöglichen, ihnen eine Struktur zu geben, sie zu stabilisieren und damit einen ersten Schritt in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.“

Und die leuchtenden Augen der Kinder, ihre Neugierde und Aufgeschlossenheit zeigen, dass das Projekt auf einem guten Weg ist. „Gemeinsam mit den lokalen Partnern, der Azraq Woman Association und helping refugees in Jordan/Mercy Corps, möchten wir hier einen Beitrag leisten und mit unserem Engagement diesen Kindern helfen, ihren Weg zurück in die Normalität und den Alltag zu gehen“, so die Schirmherrin der help alliance.

„Entscheidend ist, dass wir hier vor Ort in der Region, wo die Probleme am größten und so offensichtlich sind, etwas Sinnvolles tun können“, formuliert es Tamur Goudarzi-Pour, Vice President Sales & Services Middle East & Africa. Parallel zu den Flüchtlingsprojekten in Deutschland sei es ein sehr guter und wichtiger Ansatz, sich auch in den Ländern entlang der Flüchtlingsrouten mit passenden Projekten einzusetzen. „Hier können wir unsere Verantwortung als Unternehmen gegenüber der Gesellschaft tagtäglich beweisen.“

Zurück in Amman – Besuch beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Dessen Vertreter Paul Stromberg skizziert die Lage der Flüchtlinge schonungslos. Millionen Syrer haben das Land verlassen. Gut die Hälfte der verbliebenen Bevölkerung ist innerhalb des Landes auf der Flucht. Hunderttausende harren aus im Niemandsland zwischen Syrien und Jordanien. Städte wie Aleppo und Homs sind dem Erdboden gleichgemacht. Verzweifeln?

Aufgeben angesichts der Hoffnungslosigkeit der Situation? „Nein“, sagt Paul Stromberg, „nutzen Sie Ihre Möglichkeit zu helfen – etwas zu tun ist immer besser als nichts zu tun.“ Ein Pflänzchen im Wüstensand, das weiter wächst und gedeiht.